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In Zeiten der Krise wird der Journalismus alternative Ansätze finden


Stand: 11.03.2023 06:00 Uhr

Die Krise der Printmedien nimmt dramatische Züge an. Geht damit eine journalistische Kultur zu Ende? Der Publizist und Journalist Martin Tschechne empfiehlt in seinem Essay, erst mal durchzuatmen.

Irgendwo auf dem Dachboden stehen noch die Kartons herum. Zeitschriften aus den 80er- und 90er-Jahren, Dokumente ihrer Zeit, manche von ihnen Kunstwerke ganz eigener Art. Das Leben schien leichter damals, die Welt eine einzige Verlockung, die Zukunft offen und hell. Toll, wie sie fotografiert haben, wie lässig und gekonnt sie erzählten. Toll auch die Inszenierungen, die Reisen und Begegnungen, Autos, die Mode. Sogar die Skandale waren große Oper. Nun ja, vielleicht waren wir auch einfach nur jünger.

Der Publizist und Journalist Martin Tschechne war in seiner langen Karriere unter anderem Textchef bei "GEO" und Chefredakteur des Kunstmagazins "Weltkunst".

Doch wer steigt heute auf den Dachboden, um in alten Zeitschriften zu blättern? Auch die Bücherwand: Das Abo lief über Jahrzehnte, Überweisung per Dauerauftrag - nun sind ganze Regalmeter gefüllt mit den schlanken weißen Rücken des Kunstmagazins. Aber wo war noch der Bericht über Christo und Jeanne-Claude, die ein ganzes Tal in Kalifornien mit leuchtend gelben Sonnenschirmen vollgestellt hatten, zugleich eines in Japan mit leuchtend blauen? Die Aktion damals soll aus dem Weltraum zu erkennen gewesen sein. Irgendwo im Bücherregal wäre sie noch zu finden.

Das Ende einer Kultur?

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Und jetzt stellt der Verlag Gruner und Jahr 23 Zeitschriften ein, verkauft neun weitere wie auch diverse Beteiligungen, alles auf einmal, wie in Panik. Deutlicher und deprimierter hat bislang keiner die Existenz eines ganzen Mediums in Frage gestellt. "Barbara", "Brigitte Woman" oder "GEO Saison" fallen weg; das Kunstmagazin "Art" geht an den Meistbietenden, ebenso die Kicker-Zeitschrift "11 Freunde" oder "Beef", das Zentralorgan derer, die Fleischgenuss zur Lebensphilosophie erhöht haben. Mehr als tausend Redakteurinnen, Verlagskaufleute und Dokumentare verlieren ihren Arbeitsplatz, nicht zu reden von freien Fotografen, Autorinnen und Grafikern.

Und Bertelsmann, der Eigner des Verlages, ist nicht allein: Das Reisemagazin "Merian", 75 Jahre lang jeden Monat ein neues Heft, legt eine Pause ein. Im Spätherbst soll es ein überarbeitetes Konzept geben, mal sehen. Und Axel Springer kündigt an, die Zeitungen zum Wochenende erst mal nicht mehr vor die Haustür zu liefern. Wer lesen will, kann ja zur Tankstelle gehen. Fest steht: Print steckt in der Krise. Ob es gleich das Ende einer Kultur ist? Oder das Ende des Medienstandorts Hamburg?

Für Leserinnen und Leser ist es zunächst eine Frage von Ästhetik und Gewohnheit. Wer groß geworden ist mit dem sanften Rascheln des Papiers beim Umblättern, mit Druckerschwärze an den Fingern oder den Fotostrecken, die sich in "Stern" oder "GEO" über viele Doppelseiten hinzogen, im großen Format und ohne Rand, damit die Imagination losfliegen kann - der wird vielleicht melancholisch bei der Vorstellung, beim Frühstück oder im Lesesessel nur noch über die Glasplatte eines Tablets wischen zu sollen. Das Verhältnis zwischen einem Leser und seiner Zeitung ist nun mal sehr intim; Vertrauen spielt eine entscheidende Rolle, und gerade, wenn es um so sensible Dinge geht wie ein Lebensgefühl, um Bildung, Stil, eine Überzeugung oder guten Geschmack, ist es schnell verspielt.

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Andere haben da sehr gründlich nachgedacht. Die "Süddeutsche Zeitung" etwa: Als sie vor ein paar Jahren damit begann, ihren Inhalt auch online anzubieten, da mussten selbst die vertrauten Edelfedern neue Wege gehen. Im Anfang trat jeden Tag eine von ihnen vor die Kamera und trug ihren Kommentar zum Tagesgeschehen persönlich vor; Heribert Prantl, Christina Berndt oder Stefan Kornelius bekamen Gesicht und Stimme - und sicher haben solche Begegnungen manchem Leser geholfen, leichter von einem Medium in das andere zu wechseln. Die Redaktion stellte gesprochene Interviews in die geschriebenen Reportagen und ergänzte Berichte aus dem Ausland mit Filmen und beweglichen Schaubildern. Einmal durften die Leser sogar den Gitarrensound von Jimi Hendrix ausprobieren. Die Techniker der Online-Ausgabe hatten ein virtuelles Mischpult installiert, sogar das Jaulen des Wahwah-Pedals klang täuschend echt. Alles nur Spielerei, ja, aber auch wer nichts mit Jimi Hendrix anzufangen wusste, konnte erleben: Der neue Auftritt ist ein Gewinn. Er eröffnet neue Formate, vielleicht neue Horizonte. Sogar in einer Tageszeitung.

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Peter Matthias Gaede aber reagierte auf den angekündigten Kahlschlag bei Gruner und Jahr mit einem Wutanfall. 20 Jahre lang hatte er als Chefredakteur von "GEO" solide Gewinne abgeliefert - nun sprach er Thomas Rabe, dem Chef von Bertelsmann, dem Ausverkäufer, aber auch jedes Gefühl für journalistisches Denken ab, jede Bereitschaft und jedes Vermögen, das Wesen eines Zeitschriftenverlages und der Menschen, die dort arbeiten, zu verstehen, ihre Verrücktheiten, ihre Träume, Tragödien und Triumphe. Schon im Jahr zuvor die kaum verständliche Demütigung, das Hamburger Verlagshaus im Kölner Spaßfernsehen von RTL aufgehen zu lassen, das ebenfalls zu Bertelsmann gehört und nun die Kompetenzen der Print-Kollegen auf die Verwertbarkeit für die eigenen Produkte abklopfen sollte - für den zornigen Zeitschriftenmann war das alles einfach nur ein Desaster. "'Bauer sucht Frau'", so ätzte Gaede, "geht nun mal nicht mit dem Kunstmagazin 'Art' zusammen."

Doch auch den leidenschaftslosesten Abwickler sollten Zweifel an der eigenen Strategie beschleichen, wenn selbst die Konkurrenz sich anbietet, dem siechen Klassenprimus von einst wieder auf die Beine zu helfen. Es gehe um die Vielfalt, klagte also der Chef des Medienverbands, dem 350 Verlage angeschlossen sind. Eine Verlegerin rief nach einem runden Tisch zur Rettung des unabhängigen Journalismus. Und sogar der Kultursenator schaltete sich ein, um das mediale Ökosystem seiner Stadt zu retten. Wie lange hatte Hamburg sich in dem Ruf gesonnt, die Medienmetropole des Landes zu sein! Wir müssen Sorge dafür tragen, so das Fazit der Nothelfer, dass nicht eine ganze Branche in dieser morbiden Finsternis verschwindet, die jetzt Gruner und Jahr umgibt.

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Eine Reihe von Uhren steht in einem leeren Fabrikgebäude. Eine zeigerlose Uhr ist frontal zu sehen. © Roberto Agagliate / photocase.de Foto: Roberto Agagliate

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Dabei war das Geschäftsmodell genau hier erfunden worden; der Gründer und erste Verleger Henri Nannen trat auf als eine Art Zirkusdirektor. Auch Wundertüte oder Vergnügungsdampfer waren Bezeichnungen, die er sich gern gefallen ließ für seinen "Stern", bald für den ganzen Verlag. Keiner konnte ihm was, keiner durfte ihm was; der Laden brummte. Es war beinahe schon unverschämt. Der Kontrakt beruhte auf Gegenseitigkeit, und über Jahrzehnte hinweg funktionierte er wie eine schnurrende Gelddruckmaschine - dass ihm auch eine paradoxe Neigung zur Selbstzerstörung innewohnte, haben sie vielleicht vor lauter Freude gar nicht bemerkt. Der Verlag lieferte Wundertüte um Wundertüte, die Anzeigenkunden zahlten sehr ordentliches Geld dafür. Die Reporter glänzten mit Geschichten aus der ganzen Welt; die hauseigene Journalistenschule genoss sehr bald den Ruf, die beste in Deutschland zu sein. Und man muss das so sagen: Alle verdienten prächtig.

Marktforschung verfeinerte das Wissen um Gewohnheiten und Bedürfnisse der Leser, wertvolle Information für den Verlag. Und je schärfer das Bild wurde, desto präziser ließ sich auch das journalistische Umfeld darauf abstimmen. Macht doch mal was über Urlaub in Österreich, den neuen Trend zum Cabrio, über Weine aus Deutschland oder Mode für Frauen ab 30. Alles brachte Anzeigen. Manchmal lohnte sich sogar die Gründung eines neuen Magazins: für Hausbauer oder Hundebesitzer, für Frauen, die vielleicht Brigitte hießen, oder für Menschen, die gern blutiges Rindfleisch auf den Grill legten. Es funktionierte. Bis eines Tages die digitale Technik in der Lage war, jedem einzelnen Leser genau die Werbebotschaft auf den Schirm zu spielen, die nur seinem Profil entsprach. Ohne jeden Streuverlust; die hohe Auflage als Begründung für sechsstellige Anzeigenpreise verlor bei solcher Treffsicherheit rapide an Bedeutung. Print brauchte ein neues Geschäftsmodell. Sonst droht eben die Abrissbirne.

Zu lange auf den Lorbeeren ausgeruht

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Ob aber "Barbara" oder "Eltern" der Menschheit einmal schmerzlich fehlen werden? Eher nicht. Ob der Journalismus mit dem Verschwinden von "GEO Saison" und "Brigitte Woman" in eine Existenzkrise fällt? Vielleicht sogar im Gegenteil. Denn andere waren schneller und konsequenter darin, sich mit den digitalen Medien anzufreunden, sie relevant zu machen und attraktiv auch für ein zahlendes Publikum. "Spiegel" und "Zeit" haben online inzwischen einen Vorsprung, der in Deutschland kaum noch einzuholen ist. Die "New York Times" hat weltweit zehnmal mehr Leser online als für die Papierausgabe, ganz zu schweigen von jenen Medien, die gar nicht erst eine Ära des bedruckten Papiers hinter sich lassen mussten.

Vielleicht haben sie bei Gruner und Jahr oder bei Merian gar zu lange nicht die Not verspürt, die bekanntlich erfinderisch macht. Jetzt können sich die Frauen und Männer, die demnächst ihren Arbeitsplatz verlieren, bedanken bei einer Unternehmensleitung, die einfach nicht mehr weiter wusste. Vor allem aber bei deren Vorgängern vor zwei oder drei Generationen, die sich wie Bolle über ihre schönen Erfolge freuten und ansonsten in die Zukunft blickten wie einst Kaiser Wilhelm II., der in diesen Tagen so gern zitiert wird: "Ich glaube an das Pferd", hatte der in wirklich pompöser Dummheit verkündet. "Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung."

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Author: John Dorsey

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